Suggestion: Entstehung und Aufdeckung
Suggestion ist jede Form der Beeinflussung, durch die eine Person solche Informationen übernimmt und als eigene Wahrnehmungen schildert, die ihr durch Gespräche, Befragungen oder nachträgliche Informationen von anderen Personen – Eltern, Erzieher, Polizeibeamte, Mitarbeiter sog. Opferschutzorganisationen – übermittelt worden sind.
Aus dem Protokoll einer Anhörung eines Kindes durch einen Beamten der Kriminalpolizei:
Frage: „Woher hast du das Spiel?“
Antwort: „Vom K.“.
Frage: „Hat der K. das mal erklärt, wie man das spielt, oder hat er das vorgemacht?“
Antwort: „Erzählt, was man machen muss.“
Frage: „Hm, ist es auch mal vorgekommen, dass er gezeigt hat, wie das geht?“
Antwort: „Nee.“
Frage: „Dass er das mit euch gespielt hat?“
Antwort: „Nee, nur gesagt.“
Frage: „Nur gesagt?“
Antwort: „Ja.“
Frage: „Bis du da sicher?“
Antwort: „Hm.“
Frage: „Ich konnte mir vorstellen, wenn jemand so etwas erzählt, solch ein Spiel, dann hätte man Schwierigkeiten, genau zu erzählen, wie sowas ablaufen soll. Ich könnte mir also nicht vorstellen, dass ich das schaff, dir zu erklären, wie das Spiel laufen soll, ohne da mehr zu tun, als zu sagen, man macht das.“
Antwort: „Hm.“
Frage: „Darum überlegst du vielleicht nochmal, ob da doch noch ein bisschen mehr war, als außer reden, ne.“
Antwort: „Ja, vorgemacht und gelacht.“
Das befragte Kind antwortet fünfmal (!), der Ablauf eines Spiels sei ihm lediglich beschrieben, nicht aber vorgeführt worden. Diese Antwort passt offensichtlich nicht zum persönlichen Erwartungshorizont des Vernehmenden, der solange suggestiv auf das Kind einwirkt, bis es die „richtige“, also die von dem Vernehmenden erwartete Antwort gibt, nämlich die, dass dem Kind nicht nur gesagt, sondern auch (an ihm selbst) gezeigt worden ist, wie ein Vorgang, der dem Kind als Spiel dargestellt wurde, ablaufe.
Dass diese Antwort nichts mit dem zu tun hat, was tatsächlich stattgefunden hat, ist in dem gewählten Beispiel auch dem Laien offensichtlich.
Wissenschaftlich fundierte Begründung der Unverwertbarkeit suggestiv beeinflusster Aussagen
Die Unverwertbarkeit der letzten, allein auf die massiv suggestive Befragung zurückzuführende Antwort ist – und das ist für die Arbeit des Verteidigers in Verfahren wegen des Verdachtes des sexuellen Missbrauchs eines Kindes entscheidend – aussagepsychologisch und damit strafprozessual relevant begründbar:
In diesem Falle hat der Verteidiger in seiner Verteidigungsschrift beispielsweise die Untersuchungen von CASSEL et al., MOSTON und POOLE & WHITE heranzuziehen, um wissenschaftlich fundiert darzulegen, dass Kinder in einer Vernehmung oder einer vernehmungsähnlichen Situation bei der Wiederholung einer Frage dazu neigen, ihre erste Antwort zu verwerfen und eine andere Antwort zu geben.
POOLE et al. erklären dieses Phänomen damit, dass Befragungen von den befragten Personen nicht einfach nur als eine Art Gedächtnistest verstanden werden. Es sind vielmehr auch Konversationen, auf die die gelernten Konversationsregeln angewandt werden. In einer Konversation impliziert das Wiederholen derselben Frage, dass die erste Antwort unzulänglich war.
Weiter hat der Verteidiger in einem solchen Fall auf die aussagepsychologische Studie von WARREN et al. hinzuweisen, die belegt, dass dieser Effekt besonders ausgeprägt ist, wenn die Wiederholung einer Frage mit der expliziten Rückmeldung verbunden ist, dass die erste Antwort unzulänglich war.
Damit ist – zumindest – diese Antwort, dass der Betreuer K. an dem befragten Kind vorgeführt habe, wie ein Spiel funktioniere, im weiteren Strafprozess nicht verwertbar. Finden sich mehrere Anhaltspunkt dafür, dass eine Vernehmung suggestiv geführt worden ist, muss der Anwalt des Beschuldigten zur Vermeidung von Fehlurteilen darauf hinwirken, dass die gesamte Vernehmung im weiteren Verfahren nicht verwertet wird, damit einer Anklageschrift oder gar einem Urteil keine falschen Tatsachen zugrunde gelegt werden.
Falschinformationseffekte und Pseudoerinnerungen
„Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige was wir von anderen gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung besitzen.“ J. W. v. Goethe, Dichtung und Wahrheit
Suggestiven Effekte kommen in Form von Falschinformationseffekten und Pseudoerinnerungen vor. Bei den Falschinformationseffekten hat ein – nicht notwendigerweise sexualstrafrechtlich relevantes – Ereignis tatsächlich stattgefunden, spezifische oder unspezifische nachträgliche Informationen führen jedoch zu einer Erinnerungsveränderung an dieses Ereignis (aus der tatsächlichen Beschreibung eines Spiels gegenüber einem Kind wird dessen Vorführen am befragten Kind). Pseudoerinnerungen sind hingegen Erinnerungen an vermeintliche, komplexe Ereignisse, die überhaupt nie stattfanden.
Bereits 1974 haben die Aussagepsychologen LOFTUS und PALMER gezeigt, dass Falschinformationseffekte nicht nur bei peripheren Details, sondern auch bei zentralen Aspekten eines Geschehens auftreten können.
Falschinformationseffekte entstehen durch Fragen nach Details, an die keine oder eine nur schwache Erinnerung besteht. Vor allem Kindern zeigen eine hohe Bereitschaft, suggestivem Druck während der Befragung nachzugeben und falsche Informationen zu übernehmen, wenn sie ihre eigene Erinnerung als weniger zuverlässig erachten als die Informationen, die ihnen von dem erwachsenen Befragenden vermittelt werden. Suggestive Fragen führen zunächst dazu, dass ein (kindlicher) Zeuge seine Aussage an die Erwartungen der befragenden Person anpasst. Mit zunehmendem Zeitablauf ist der Zeuge dann von der Richtigkeit seiner angepassten Aussage überzeugt. Das ist auch der Grund, weswegen namhafte Aussagepsychologen wie KÖHNKEN es ablehnen, durch suggestiven Einfluss entstandene Aussagen mit der sog. merkmalsorientierten Qualitätsanalyse auf ihre Glaubhaftigkeit zu überprüfen: Der Zeuge denkt ja selbst, dass ihm durch Suggestion eingeimpfte Ereignis habe sich so zugetragen.
Die Erkenntnis, dass Erinnerung fehlbar und gerade nicht simples Abbild des tatsächlich Vorgefallenen, sondern stets eine Leistung der produktiven Einbildungskraft ist, die Einzeltatsachen in einen Sinnzusammenhang einbettet, erkannte Goethe schon vor 210 Jahren, als er begann, seine Autobiographie zu schreiben, die er gerade deswegen mit dem Untertitel „Dichtung und Wahrheit“ versah.
Die unterschätze Wirkung der Suggestion: Die Wormser (bzw. Mainzer) Missbrauchsprozesse
Der Vorsitzende Richter Lorenz begann im Wormser Missbrauchsprozess die mündliche Begründung des alle Angeklagten freisprechenden Urteils mit den Worten
„Den Wormser Massenmissbrauch hat es nie gegeben. Bei allen Angeklagten, für die ein langer Leidensweg zu Ende geht, haben wir uns zu entschuldigen.“
Erst nach diesen Freisprüchen sah sich der „Opferhilfeverein“ Wildwasser veranlasst, sich von seiner Mitarbeiterin, die nach einem Bericht der Berliner Zeitung 1997 noch immer von der Richtigkeit ihrer fatalen „Opferhilfe“ überzeugt war und den Weg für die suggestive Beeinflussung der Kinder bereitete, zu trennen. Eine öffentliche Entschuldigung oder andere Konsequenzen gibt es bis heute nicht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb dieser Wildwasser-Mitarbeiterin, die sich anmaßte, selbst zu „ermitteln“ und im Rahmen dieser eigenen Ermittlungen den Kindern Sachverhalte durch massive suggestive Einflussnahme einimpfte, eine „gewisse kriminelle Energie“ zu. Womit sie so wenig Unrecht hat wie der Beschreibung des Verhaltens der Staatsanwaltschaft als „Amoklauf“.
DER SPIEGEL, Erzeugnis deutscher Qualitätspresse, nicht erst seit Relotius bekannt für seine profunden Recherchen, kritischen Betrachtungen und hochkarätigen Rechtskenntnisse, informierte seine Leserschaft im Laufe der Wormser Verfahren am 14. Februar 1994 über den Verdachtsgrad der den Angeklagten vorgeworfenen Missbrauchstaten:
„Ein Großteil der medizinischen Befunde und die weitgehend übereinstimmenden Aussagen der Kinder lassen kaum Zweifel an vielen der Vorwürfe zu.“
Am 23. Juni 1996 titelte der nämliche SPIEGEL dann:
„In Mainz ist der letzte von drei Prozessen um sexuellen Kindesmissbrauch mit einem jeden Zweifel ausräumenden Urteil beendet worden: „Massenmissbrauch hat es in Worms nie gegeben.““
So sieht kritische Berichterstattung aus. Ein Fähnlein im Winde – unbelehrbar dazu, wie seine Berichterstattung in einem anderen Missbrauchsverfahren zeigt.
Die Aussagepsychologen Max STELLER, Burkhard SCHADE und Marie-Luise KLUCK kommen zum Ergebnis, dass die gesamten Aussagen der Kinder zum angeblichen Missbrauchsgeschehen durch suggestive Beeinflussung zu erklären seien und den Kindern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überhaupt nichts geschehen sei.
Verwendete Literatur:
CASSEL, W. S., ROEBERS, C. M. & BJORKLUND, D. F. (1996). Developmental patterns of eyewitness responses to repeated and increasingly suggestive questions. Journal of Experimental Child Psychology, 61, 116-133.
MOSTON, S. The suggestibility of children in interview studies, First Language, Vol 7, Issue 19, pp. 67 – 78
POOLE, D., WHITE, L. T., Effects of Question Repetition on the Eyewitness Testimony of Children and Adults, Developmental Psychology (1991) Vol. 27, No. 6, S. 975-986
WARREN, A. R., HULSE-TROTTER, K., & TUBBS, E. (1991). Inducing resistance to suggestibility in children. Lag and Human Behavior, 15, 273-285.Warren, Hulse-Trotter & Tubbs, 1991).
LOFTUS, E., PALMER, J. C. Reconstruction of Automobile Destruction: An Example of the Interaction Between Language and Memory, Journal of verbal Behavior 13, 1974, 585–589;