Gefahr in Missbrauchsverfahren: Verurteilung eines Unschuldigen

Die Dunkelziffer unentdeckter Sexualdelikte ist möglicherweise hoch. Auf jeden Fall hoch ist die Dunkelziffer der unentdeckten Fehlurteile in Missbrauchsverfahren.

Die rechtskräftigen – und allesamt erst nach sogenannten Wiederaufnahmeverfahren aufgehobenen – Verurteilungen des Horst Arnold (Landgericht Darmstadt), des Harry Wörz (Landgericht Karlsruhe), des Norbert Kuß (Landgericht Saarbrücken), des Herbert Becker (Landgericht Halle), des Thomas Ewers (Landgericht Dortmund), des Heinz-Dieter Gill (Landgericht Kempten), um nur wenige exemplarisch zu nennen, legen ein beredtes Zeugnis von dem Risiko ab, im Deutschland des 21. Jahrhunderts unschuldig verurteilt zu werden.

Die Strafkammer des Landgerichts Dortmund führt in den schriftlichen Urteilsgründung der Verurteilung des unschuldigen Thomas Ewers wegen Vergewaltigung zu sieben Jahren und zwei Monaten aus:

„Die Unsicherheit über die zeitliche Reihenfolge hält die Kammer nicht für ein Bedenken gegen die Richtigkeit der Aussage […] Hätte nämlich die Zeugin eine erfundene Geschichte mitteilen wollen, hätte sie sich auch in zeitlicher Hinsicht festgelegt […] Das abwägige [sic!] Verhalten der Aussage, sie wisse es nicht genau, spricht für ihre Wahrheitsliebe.“

Der Bundesgerichtshof bestätigte die Verurteilung wegen Vergewaltigung, reduzierte das Strafmaß aus rechtlichen Gründen auf sechs Jahre und acht Monate.

Der Vorsitzende der Strafkammer des Landgerichts Essen, vor der nach stattgegebenem Wiederaufnahmeantrag eine erneute Hauptverhandlung erfolgte, nachdem Ewers die volle Strafe – sechs Jahre und acht Monate – abgesessen hatte, kommentierte den Freispruch mit den Worten:

„Für das, was Sie erlebt haben, fehlen einem die Worte. Wir fühlen mit Ihnen.“

Die Zeugin, der das Landgericht Dortmund expressis verbis „Wahrheitsliebe“ bestätigte, wurde wegen Freiheitsberaubung – die Falschaussagedelikte waren bereits verjährt – zu drei Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.

Die Bewertung der deutschen Justiz als „System der Willkür und Arroganz“ durch den ehemaligen Arbeitsminister Norbert Blüm in seinem Buch Einspruch! trifft auf diejenigen Strafrichter zu, die der festen Überzeugung sind, Fehlurteile kämen äußerst selten vor und wenn überhaupt, dann in ihrer eigenen Strafkammer gewiss niemals.

Vergegenwärtigt man sich, mit welcher Verbissenheit sich die Strafgerichte gegen die Wiederaufnahme von Verfahren wehren, wird man manchem Strafrichter die von Blüm festgestellte Arroganz und dazu ein gerüttelt Maß an Selbstherrlichkeit attestieren müssen.

Im Falle des nach einem Urteil des Landgerichts Kempten sieben Jahre unschuldig inhaftierten Heinz-Dieter Gill hat das Oberlandesgericht München in seiner unfehlbaren Herrlichkeit einen Wiederaufnahmeantrag des Inhaftierten, den dieser auf die eklatanten wissenschaftlichen Mängel des über seine Tochter, die einzige Belastungszeugin, angefertigten aussagepsychologischen Gutachtens stützte, abgelehnt mit der Begründung, zwar entspreche das der Verurteilung zugrunde liegenden Gutachten nicht dem wissenschaftlichen Stand, dies führe aber noch nicht zur Erschütterung des Urteils.

Einer der führenden Aussagpsychologen Deutschlands, Prof. Günther Köhnken, bezeichnete die der Verurteilung Gills zugrunde liegenden Gutachten als „Gesinnungsdiagnostik“; die in den Fällen der  Aussage-gegen-Aussage-Konstellation anzuwendenden gutachterlichen Standards seien „gröblich verletzt“ worden. Diese Standards waren offenbar weder beim Landgericht in Kempten noch beim Oberlandesgericht in München bekannt.

Das führt uns zur besonderen Fehleranfälligkeit von Urteilen in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs:  

Höchste Fehleranfälligkeit bei der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation

Während in Strafverfahren, in denen andere, nämlich objektivere Beweismittel als eine bloße Zeugenaussage als einziger Belastungsbeweis zur Verfügung stehen, die Gefahr eines Fehlurteiles weniger hoch ist, hängt nicht in allen, aber doch in neun von zehn Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs eine Verurteilung einzig und alleine davon ab, ob das Gericht dem Belastungszeugen glaubt oder nicht. Ob es das tut, hängt wiederum in sehr vielen Fällen davon ab, wie das in Auftrag gegebene aussagepsychologische Gutachten ausfällt.

Erkennt der Verteidiger die Tendenz eines Gutachters, ein – nach der Diktion des Prof. Köhnken: – Gesinnungsgutachten zu erstellen, muss er bereits im Ermittlungsverfahren und nicht erst im Zwischen- oder Hauptverfahren, erst recht nicht erst im Revisionsverfahren alle strafprozessual verfügbaren Möglichkeiten gegen diese Gutachten in Stellung bringen.

 

Bester Zeitpunkt einer Verteidigung im Missbrauchsverfahren? Sofort!

Wer erst einmal von der Strafkammer eines Landgerichts verurteilt worden ist, dem steht lediglich die Revision zum Bundesgerichtshof zur Verfügung. In allen genannten Fällen hat der allerdings die Revision entweder komplett oder doch in wesentlichen Teilen als unbegründet zurückgewiesen.

Während die Berufung (vom Amtsgericht zum Landgericht) nämlich dazu führt, dass der ganze Sachverhalt noch einmal ermittelt wird, die dem Urteil zugrunde gelegten amtsgerichtlichen Feststellungen also hinfällig sind, überprüft der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz lediglich, ob – erstens – das Recht auf die festgestellten Tatsachen richtig angewandt wurde, und ob – zweitens – diese Tatsachen auf verfahrensrechtlich richtige Weise festgestellt worden sind.

In den zahlreichen Beispielen von Fehlurteilen hat der Bundesgerichtshof offenbar keine Rechtsfehler feststellen können, weder bei der Rechtsanwendung, noch bei dem Vorgang der Tatsachenfeststellung.

Wie es schlechte Richter und Staatsanwälte gibt, gibt es auch inkompetente, überforderte oder schlicht weniger am Verfahrensausgang als vielmehr am eigenen Salär interessierte Verteidiger.
Untrügliches Erkennungszeichen eines solchen in Verfahren wegen des Verdachtes des sexuellen Missbrauchs ist es, wenn er im Stadium des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens, wenn also noch gar keine Anklage erhoben ist, keine Verteidigungsschrift entwirft, in der er nach den aktuellen wissenschaftlichen Standards in äußerster Detailliertheit die Umstände darlegt, die Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Belastungszeugin bzw. des Belastungszeugen begründen.

Auf diese Weise ist die Gelegenheit genutzt, den Staatsanwalt noch im Ermittlungsverfahren von der Unglaubhaftigkeit einer Aussage zu überzeugen, so dass er sich den fundierten Verteidigerausführungen anschließen und das Verfahren einstellen kann, ohne die Beschwerde gegen die Einstellung durch die Anzeigeerstatterin – meist vertreten durch eine sogenannte Opferanwältin –  zur Generalstaatsanwaltschaft fürchten zu müssen.

Selbst wenn der Staatsanwalt aufgrund der Verteidigungsschrift „nur“ seinerseits beginnt, Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben des Belastungszeugen zu hegen und selbst einen Aussagepsychologen mit der Erstattung eines schriftlichen Gutachtens über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Belastungszeugin beauftragt, wird dieser Sachverständige all die Umstände in seinem Gutachten auf das Genaueste überprüfen, die der Verteidiger in der Verteidigungsschrift wissenschaftlich fundiert als problematisch dargestellt hat. Setzt er sich damit nämlich nicht auseinander, ist es gewiss, dass spätestens im Falle der Anklage ein Zweitgutachter beauftragt wird. Das Risikos, sich von einem Kollegen die Mangelhaftigkeit der eigenen Arbeit attestieren zu lassen, wird kein Gutachter ohne Not eingehen.

Sache des Verteidigers ist es außerdem, bereits im Ermittlungsverfahren dafür zu sorgen, dass sich der Fokus der Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht ausschließlich auf Umstände beschränkt, die den Beschuldigten belasten – was meist bei einer Konzentration auf die Aussage des vermeintlichen Opfers der Fall ist -, sondern auch solche Umstände zum Gegenstand der Ermittlungen gemacht werden, die den Beschuldigten entlasten. Das in der Aussagepsychologie als „konfirmatorisches Hypothesentesten“ beschriebene Verhalten, das zur Bestätigung vorgefasster Meinungen, man könnte auch sagen: Vorverurteilungen, führt, muss entlarvt und ihm muss mit strafprozessualen Verteidigungsmitteln entgegengewirkt werden.

Wer als Beschuldigter schon im Anfangsstadium eines Missbrauchsverfahrens einen der vielen ungeeigneten Verteidiger beauftragt hat oder sich vom Ermittlungsrichter in Form eines Pflichtverteidigers hat aufdrängen lassen, erhöht sein persönliches  Risiko erheblich, Opfer eines Justizirrtums zu werden – möglicherweise auch eines solchen, der niemals als Irrtum erkannt wird.