Muss ich meine Unschuld beweisen?

Wer so fragt, stellt die zweite vor der logisch ersten Frage. Die nämlich lautet: Kann ich als Beschuldigter eines sexuellen Missbrauchs meine Unschuld überhaupt beweisen?
Den Beweis zu erbringen, die Taten, die Ihnen von einem Zeugen unterstellt werden, nicht begangen zu haben im Sinne einer gerichtlichen Feststellung, dass diese Taten nicht von Ihnen begangen wurden, gelingt in den allerseltensten Fällen.

Woran liegt das?

An der Unfähigkeit vieler Strafverteidiger? An der Voreingenommenheit von Strafrichtern? Weil einige (Ahnungslose) behaupten, dass Missbrauchsvorwürfe viel seltener als Beschuldigungen anderer Straftaten ausgedacht seien und daher fast immer der Wahrheit entsprächen?

Es liegt jedenfalls nicht am Letztgenannten, sondern an der sehr speziellen Beweiskonstellation in Missbrauchsverfahren, die im Volksmund mit dem Schlagwort „Aussage-gegen-Aussage“ umschrieben wird:

Beweiskonstellation „Aussage-gegen-Aussage“ beim Verdacht des sexuellen Missbrauchs

Sie kommt keineswegs nur in Missbrauchsverfahren vor, sondern auch in Verfahren wegen des Verdachtes aller möglichen anderen Delikte: Wenn beim Ausparken der Fahrer des auf Sie zugelassenen Autos seinen Vordermann so touchiert , dass der Schaden vierstellig ist, und dann frohen Mutes, nicht gesehen worden zu sein, wegfährt, kann die Beteiligung Ihres Autos an dem Unfall technisch meist problemlos nachgewiesen (Lackabtragungen, korrespondierendes Schadensbild usw.) werden, wenn der Unfall von einem Zeugen beobachtet worden ist und die Ermittlungsbehörden Ihres Autos danach habhaft werden. Was nicht feststeht und gegebenenfalls nur über die Zeugenaussage als solche bewiesen werden kann, sind erstens die Person des Fahrers (Sie oder Ihr Cousin), zweitens Umstände, die darauf schließen lassen, dass der Fahrer der Kollision gewahr wurde.

Bei dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs hingegen finden sich sehr selten Umstände außerhalb von Zeugenaussagen, die den sexuellen Missbrauch als solchen beweisen oder widerlegen. Es finden sich sogar selten Umstände, die man als Indizien für einen Missbrauch bezeichnen kann. Der Verdacht fußt einzig und alleine auf den Angaben des Zeugen.

Wie verfährt das Gericht – oder vorher im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft – bei der Frage, ob nun einem Zeugen zu glauben ist oder nicht? Gibt es Empfehlungen wie „je abstruser der Vorwurf, desto wahrer muss er sein“, althergebrachte Tradition – „die Bekundungen eines Schutzmannes wiegen mehr als die dreier Tagelöhner“ -, anerkannte wissenschaftliche Methoden oder gar gesetzliche Vorgaben?

 

Nullhypothese als methodisches Prinzip bei der Wahrheitsfindung

Es gibt Richterrecht, das sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat und auf wissenschaftlich anerkannten Methoden der Aussagepsychologie beruht.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einer richtungsweisenden Entscheidung im Jahre 1998 das dort als Nullhypothese bezeichnete methodische Prinzip, Fehlschlüssen bezüglich der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Zeugen durch die selektive Nutzung von Indikatoren entgegenzuwirken, indem kontrastierende Hypothesen formuliert werden, die logisch und psychologisch eine Prüfung der verschiedenen Annahmen anhand diagnostischer Daten gestatten. Klingt kompliziert, ist es aber nicht:

Der Bundesgerichtshof formuliert dieses als Prinzip, das ab dem Jahr 1998 notwendiger wissenschaftlicher Standard für die Erstattung eines Gutachtens über die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage ist, folgendermaßen:

„Das methodische Grundprinzip besteht darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt.“

Kurz: Sachverständige, Gericht und Staatsanwaltschaft haben bei der Beurteilung einer Aussage so vorzugehen: Es ist anzunehmen, die Aussage sei unwahr, es sei denn, es finden sich so viele Umstände, die gegen die Unwahrheit sprechen, dass diese anfängliche These der Unwahrheit nicht mehr aufrecht erhalten werden kann.

Dieses Prinzip soll also denjenigen, der über die Glaubhaftigkeit – letztlich also über die Wahrheit – einer Aussage zu entscheiden hat, dazu zwingen, zu überprüfen, ob die festgestellten Umstände (Inhalt der Aussage, Art und Weise deren Zustandekommens, äußere Form der Aussage, Motivation zur Aussage u. ä.) nicht nur mit der Wahrheit der Aussage in Einklang zu bringen sind, sondern eventuell auch mit deren Unwahrheit.

 

Unmöglichkeit des Unschuldsbeweises im Missbrauchsverfahren

Sie wissen nun in groben Zügen, wie ein Gericht methodisch vorgeht, um herauszufinden, ob Tatvorwürfe bei der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zutreffen oder nicht.
Es ist Ihnen sicher aufgefallen, dass dabei die Zeugen, die Nullhypothese, Unwahrhypothesen und einiges mehr eine Rolle spielen – aber eines grundsätzlich nicht: Ihre Aussage als Beschuldigter oder Angeklagter.  

Es ist in der Tat so: Ob ein Gericht von der Schuld eines Angeklagten überzeugt ist, hängt in Missbrauchsverfahren in aller Regel ausschließlich davon ab, ob es den Angaben des Zeugen oder der Zeugin glaubt. Diesen Angaben kann das Gericht dann glauben, wenn es selbst oder ein Sachverständiger der Aussagepsychologie diese Angaben methodisch korrekt überprüft hat und diese Prüfung ergibt, dass die Unwahrhypothese zu verwerfen ist oder verworfen werden kann.

Was der Angeklagte sagt, fließt in diesem Zusammenhang allenfalls bei der Bewertung einzelner Umstände im Rahmen der Überprüfung der Gesamtaussage des Zeugen ein.
Behauptet die Zeugin etwa, sie sei sich sicher, nach der Messe am ersten Weihnachtstag des Jahres 2012 in Bamberg missbraucht worden zu sein und lässt sich der Angeklagte dahin ein, zu diesem Zeitpunkt habe er in Tokio an einem Aikido-Kurs teilgenommen, was objektiv belegt werden kann, wird dieser Umstand in die Prüfung miteinbezogen und in deren Rahmen bewertet, z. B. die Zeugin habe sich erklärlicherweise im Jahr geirrt, habe Weihnachten und Neujahr verwechselt u. ä.

Selbst wenn auf einen sogenannten mehrfachen „Vorhalt“ die Zeugin bei dem genannten Datum bleibt, und der Angeklagte frei gesprochen wird, geschieht dies fast ausschließlich unter dem Hinweis, es gebe so große Zweifel an den Angaben der Zeugin, dass die Unwahrhypothese nicht zu widerlegen sei. Das heißt aber gerade nicht, dass damit die Unschuld des Angeklagten erwiesen, weil die Angaben der Zeugin objektiv falsch seien. Es heißt nur, dass bei Anwendung der korrekten Prüfmethode die Unwahrhypothese der Angaben nicht widerlegt werden konnte; wie es tatsächlich war, lässt sich mit den zur Verfügung stehenden Mitteln indessen nicht klären.

 

Konsequenzen für den Beschuldigten: Darlegung der Zweifel im Ermittlungsverfahren

Sie sehen also, dass es in einem Prozess wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs eines Kindes, eines Schutzbefohlenen, eines Jugendlichen schlechterdings nicht möglich ist, seine Unschuld zu beweisen.

Daraus ergeben sich zwei Folgerungen:

  1. Wenn Sie Ihre Unschuld nicht beweisen können, kann die Rechtsordnung nicht verlangen, dass Sie es müssen.
  2. Da ein Strafverfahren, in dem als Tatnachweis einzig und alleine Aussagen eines Zeugen als Beweismittel zur Verfügung stehen, bestenfalls so enden kann, dass so große Zweifel an den Angaben des Zeugen festgestellt werden, dass man ihm nicht glaubt, aber eben nicht so enden kann, dass die Unschuld des Angeklagten festgestellt wird, sollte jedem Beschuldigten daran gelegen sein, die Zweifel an den Angaben des Zeugen bereits im Ermittlungsverfahren aufzuzeigen, indem die Aussage, die den Anfangsverdacht des sexuellen Missbrauchs begründet, verwendet wird, um einen hinreichenden Tatverdacht –  eine intensivere Verdachtsstufe als der Anfangsverdacht und gleichzeitig Voraussetzung für eine Anklageerhebung – zu widerlegen und sich so Anklage und im Falle deren Zulassung eine öffentliche Hauptverhandlung zu ersparen. Durch die öffentliche Hauptverhandlung wird die Unmöglichkeit der Beweis der eigenen Unschuld zur lebenslangen Bürde.